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Klassischerweise kenne ich Nehemia als ein Vorbild. Einen Leiter mit Vision, der sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt. Einen Mann, der die Menschen begeistert und zu Gottes Werk ermutigt. Bedrohungen und Druck von außen können ihm nichts anhaben. Er ist von Gott beauftragt und er weiß genau, was er zu tun hat. Als Leiter sollte ich von ihm lernen, mit Vision zu leiten, und mich an seinem Vorbild orientieren, dass ich mich nicht entmutigen lasse bei Rückschlägen und Widerstand.

Seit ich die Predigt von Daniel Gerasch über die Nehemia und seinen Verfolgungswahn (meine Wortwahl) gehört habe, weiß ich nicht mehr, wie ich Nehemia verstehen soll. Aus seiner Predigt im Februar 2020 habe ich in Erinnerung, dass er Nehemia als einen Mann bezeichnet, der eine Mauer aufbaut, die nicht aufgebaut werden soll (vgl. Sacharja 2,8-9). Der Verfolgung wittert, wo keine Verfolgung ist. Daniel stellt die Frage, ob Sanballat wirklich der böse Feind ist, für den Nehemia ihn hält. Eine Frage, die für mich weiter offen ist.

Wenn ich Nehemia lese, stelle ich mir noch eine weitere Frage. Kann ich in Nehemia einen positiven, gesunden Leiter sehen? Oder verstehe ich ihn eher als Beispiel für toxische Leiterschaft? Nehemia 6 halte ich für ein Kapitel, dass sich zur Veranschaulichung der beiden Gegensätze eignet. Die Mauer wird fertiggestellt. Nehemia verteidigt sich gegen die bösen Pläne seiner Feinde.

Nehemia 6,1-9

Als der Bau der Mauer fast abgeschlossen ist, wird Nehemia von Sanballat und den anderen Feinden wiederholt eingeladen. Sie schreiben Nehemia von Gerüchten: es soll von Nehemia behauptet werden, dass er nach dem Bau der Mauer eine Rebellion beginnen möchte. Sanballat und die anderen Feinde möchten diesen Umstand scheinbar mit Nehemia besprechen. Nehemia sieht dies als einen Einschüchterungsversuch und lehnt wiederholt ab.

Eine Auslegung, die Nehemia als Vorbild für Leiterschaft sieht, könnte folgendermaßen skizziert werden: Durch Gottes Weisheit kann Nehemia die bösen Absichten seiner Feinde erkennen. Er bleibt standhaft an seinem Vorhaben und lässt sich nicht von der Fertigstellung der Mauer abbringen. Anstatt eingeschüchtert zu werden, geht Nehemia entschlossener ans Werk.

Eine Auslegung, die Nehemia als toxischen Leiter sieht, würde ich folgendermaßen skizzieren: Sanballat und co haben tatsächlich dieses Gerücht vernommen und wollen, wie sie sagen, mit Nehemia beraten, was zu tun ist. Nehemia wittert Verfolgung, obwohl es diese gar nicht gibt. Seine Mission steht über allem, seine Arbeit ist zu wichtig, um sie durch etwas wie Dialog ausbremsen zu lassen. Wenn etwas nicht in sein Weltbild passt, dann bezeichnet er es als frei erfunden. Wer ihm nicht vorbehaltlos folgt oder nicht zu seinem Team gehört, der ist gegen ihn.

Nehemia 6,10-13

Schemaja empfiehlt Nehemia in das Innere des Tempels zu gehen, damit er vor einem geplanten Mord-Anschlag sicher ist. Nehemia geht nicht darauf ein, da er nicht davon laufen will und er nicht in den Tempel darf. Nehemia versteht Schemajas Vorschlag als einen Versuch von Sanballat und seinen anderen Feinden, um ihn lächerlich zu machen.

Nehemia als Vorbild für Leiterschaft: Nehemia ist ein Mann mit Prinzipien. Er lässt sich nicht dazu verleiten Unrecht zu tun, selbst wenn es scheinbar um sein Leben geht. Gottes Weisheit verschafft ihm die Erkenntnis, dass Schemaja lediglich von seinen Feinden dazu bezahlt wurde, um Nehemia einzuschüchtern und bloßzustellen. Doch er bleibt standhaft und lässt sich nicht verführen.

Nehemia als toxischer Leiter: Schemaja hat tatsächlich von Mordplänen gegen Nehemia gehört (vielleicht von Nehemia selbst, denn er fördert in seiner Selbstdarstellung das Bild von sich als Verfolgtem). Er möchte Nehemias Leben retten und hat eine Idee. Die Idee ist gut gemeint, aber nicht gut, da Nehemia bei ihrer Umsetzung ein Unrecht begehen müsste. Nehemia lehnt den Vorschlag ab, aber er geht noch weiter. Er nutzt die schlechte Idee, um sich als verfolgten Mann zu inszenieren. Schemaja hat ihm diesen Vorschlag nicht gemacht, weil er helfen will, sondern weil er von Nehemias Feinden bezahlt wurde. Damit verstärkt Nehemia das Droh-Szenario gegen sich selbst und sein Selbstbild: Er wird von seinen Feinden verfolgt, seine Feinde infiltrieren dafür auch die Anhänger von Nehemia, er ist jedoch weise genug, um die Angriffe entlarven zu können, was er sagt ist richtig.

Weitere herausfordernde Stellen in Nehemia

Es wäre sicher interessant eine Gegenüberstellung dieser beiden Auslegungsarten konsequent für das ganze Buch Nehemia vorzunehmen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das zu diesem Zeitpunkt bereits sinnvoll ist. Darum notiere ich im folgenden lediglich einige Passagen In Kürze, folgende Passagen zeigen aus meiner Sicht ebenfalls Anzeichen für toxische Leiterschaft:

  • Nehemia 3,33-38. Sanballat kritisiert spöttisch den Plan und das Material des Mauerbaus. Tobija spottet über den Zustand und die Stabilität der Mauer. Nehemia bittet Gott, dass sie dafür Plünderungen und Gefangenschaft erleben. Kritik an Nehemia ist Kritik an Gott. Und es geht bisher um eine Mauer, die erst die halbe Höhe erreicht hat.

  • Nehemia 4,15-17. Die Konsequenz aus dem Droh-Szenario aus ganz Nehemia 4. Es wird von früh morgens bis in die Nacht gearbeitet und in der Nacht sollen die Männer bei der Wache unterstützen.

  • Nehemia 5,14-19. Das Volk kann sich glücklich schätzen, dass es jemanden zum Leiter hat, der so uneigennützig ist wie Nehemia. Diese Ausführung bietet Nährboden für Anforderungen wie: Ich habe so viel uneigennützig geleistet für euch und jetzt seid ihr dran.

  • Nehemia 6,17-19. Kontakt zu einem vermeintlichen Feind ist Beihilfe zu seinen Angriffen.

  • Nehemia 7,1-3. Ein wichtiger Posten gibt er seinem Bruder. Die Öffnungszeiten der Tore klingen lächerlich kurz. Die Bürger der Stadt werden durch ihren Wachdienst in ständige Alarmbereitschaft versetzt.

  • Nehemia 7,4 und Nehemia 11,1-2. Die Mauer um Jerusalem wurde aufgebaut, aber nur wenige wollen in Jerusalem leben. Das Volk wirft Lose, um zu bestimmen, wer in Jerusalem muss. Ist die Vision des Nehemia doch nicht in der Breite angekommen? Handelt es sich mit dem Bau der Mauer mehr um ein Prestige-Projekt von Nehemia?

  • Nehemia 13,1-3. Weil Israeliten mit zwei Völkern nicht vermischt werden sollten, wurden alle Fremden abgesondert. Schießt Nehemia über das Ziel hinaus?

  • Nehemia 13,4-9. Nehemia duldet keine Entscheidungen, die ihm nicht gefallen, obwohl er die Verantwortung delegiert hat. Er versucht Personen aktiv aus dem System zu drängen, die er als Problem empfindet.

  • Nehemia 13,10-13. Was Nehemia bei seinem ersten Besuch eingeführt hat, war nicht in der Vision vom Volk getragen. Wie sind daher seine Erfolgsberichte aus früheren Kapiteln zu bewerten?

  • Nehemia 13,15-22. Sabbat wird nicht eingehalten, uncool. Die Methoden von Nehemia wirken verzweifelt, um den Sabbat zu erzwingen. Eine Veränderung des Herzens scheint er nicht vornehmen zu wollen.

  • Nehemia 13,23-27. Nehemia scheint keine natürliche Autorität zu besitzen. Die Menschen handeln nicht von sich, wie er es sich wünscht. Er scheint darüber derart wütend zu werden, dass er gewalttätig wird.

  • Nehemia 13,28. Wieder scheint Nehemia eine persönliche Fehde gegen Sanballat auszutragen.

Aber, Nehemia ist doch ein Held der Bibel?

Ist es verwerflich, einen biblischen Protagonisten als schlechtes Vorbild zu sehen? Ich denke, Nein, solange diese Darstellung als schlechtes Vorbild die beabsichtigte Botschaft der Bibel ist (und vielleicht auch: wenn es der beabsichtigten Botschaft der Bibel nicht widerspricht). Die Bibel spricht von kaum einem biblischen Protagonisten nur positiv. Davids Ehebruch und Erziehung wird negativ dargestellt. Das Buch Richter berichtet fast nur von katastrophalen Personen und Ereignissen. Das wird in den Texten sehr deutlich.

Die Frage ist vielmehr: versteht die Bibel Nehemia als ein positives oder ein negatives Beispiel? Auffällig empfinde ich, dass Nehemia vollständig aus seiner Sicht geschrieben ist (vgl. Sprüche 18,17). Er geht davon aus, dass Gott auf seiner Seite steht, weil ihm gelingt, was er vorhat. Aber, äußert sich Gott an irgendeiner Stelle zu Nehemia und dem Mauerbau? In der Bibel wird Nehemia in keinem anderen Buch erwähnt.

Anders formuliert sollte die Frage lauten: Was war die beabsichtigte Aussage des Buches Nehemia? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, ist eine gründliche Exegese und Recherche notwendig, die ich an dieser Stelle nicht leisten kann. Wenn du jedoch Auseinandersetzungen mit dieser Frage kennst, dann schick mir einen kurzen Hinweis.

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